Die 16-jährige Amtszeit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel geht nach der Bundestagswahl am 26. September zu Ende. Dieser Beitrag untersucht die gesundheitspolitischen Positionen der führenden deutschen Parteien und bewertet, wie eine neue deutsche Regierung die EU-Gesundheitspolitik gestalten könnte. 

Gesundheitspolitik nimmt für politische Entscheidungsträger in Deutschland und der EU höchste Priorität ein. Die COVID-19-Krise hat nicht nur Defizite in der grenzüberschreitenden Gesundheitskoordinierung in der EU aufgezeigt, sondern auch die Notwendigkeit sicherer und unabhängiger Lieferketten unterstrichen. Im Zentrum stehen hierbei der Aufbau einer starken digitalen Infrastruktur sowie Förderung der Wettbewerbsfähigkeit für pharmazeutische Forschung und Entwicklung – auf nationaler und europäischer Ebene. 

Heute sehen die Europäer die Gesundheitspolitik als das Politikfeld mit dem größten Handlungsbedarf. In Deutschland beispielsweise ergab das Edelman Trust Barometer 2021, dass den Deutschen eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung wichtiger ist als der Kampf gegen den Klimawandel. Für Deutschland – lange bekannt als „Apotheke der Welt“ –
ist die bevorstehende Wahl richtungsentscheidend für die Stärkung der globalen Wettbewerbsfähigkeit in Zeiten wachsender Herausforderungen. 
 

Deutschlands Weg zu einer Europäischen Gesundheitsunion wird steinig bleiben

Auf EU-Ebene wird von Deutschland allgemein erwartet, dass es sich für eine stärkere Koordinierung der Gesundheitsversorgung zwischen den Mitgliedstaaten einsetzt. Die deutschen Parteien sind sich jedoch uneins darüber, inwieweit die EU Einfluss auf die nationalen Gesundheitssysteme nehmen sollte. Während die derzeitige deutsche Regierung die Idee einer Europäischen Gesundheitsunion vorsichtig unterstützt, könnte eine linksgerichtete Koalition aus Sozialdemokraten (SPD), Grünen und Linken („R2G“) die Gesundheitslandschaft der EU grundlegender verändern, indem sie das politische Gewicht Deutschlands in diese Initiative legt. 

Die Grünen verfolgen einen dezidiert stärker europäisch ausgerichteten Ansatz. Sie fordern eine Europäische Gesundheitsunion und befürworten einen besseren EU-weiten Datenaustausch. Ebenso unterstützen sie die Einrichtung einer EU-Behörde für die Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen (HERA), ein gestärktes Europäisches Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) und eine engere Zusammenarbeit zwischen nationalen Gesundheitsbehörden. Es wird erwartet, dass sowohl die Regierungsparteien CDU/CSU als auch die SPD auf Kontinuität der bisherigen deutschen Politik setzen, die aber grundsätzlich eine engere EU-Gesundheitszusammenarbeit befürwortet. Die Liberalen (FDP) plädieren vor allem dafür, die pharmazeutische Produktion in Deutschland und in der EU zu stärken, unter anderem durch Subventionen zur Förderung von Produktionsstandorten. Obwohl die Liberalen eine europäische Zusammenarbeit unterstützen, sehen sie ein stärkeres Eingreifen der EU in nationalstaatliche Kompetenzen, beispielsweise durch eine Europäische Gesundheitsunion, kritischer.

Gleichzeitig decken sich die deutschen Pläne zur Stärkung der EU-Gesundheitspolitik mit dem Ziel, die globale Gesundheitskooperation auszubauen, z.B. bei der Pandemiebekämpfung (das WHO-Zentrum für Pandemie- und Epidemieaufklärung hat erst im September in Berlin seine Arbeit aufgenommen). Alle möglichen Koalitionsparteien senden ein klares Signal aus, dass Deutschland willens und in der Lage ist, eine Führungsrolle in der globalen Gesundheitsversorgung zu übernehmen und eine (reformierte) WHO mit dem Ziel einer verstärkten Zusammenarbeit und Finanzierung nachdrücklich zu unterstützen. Es ist also zu erwarten, dass eine neue Regierung nicht nur die Führungsrolle Deutschlands in Europa, sondern auch weltweit stärken will.   


Ein mögliches Linksbündnis („R2G“) wird voraussichtlich einen starken Schwerpunkt auf Preisregulierung und Patente legen 

Die wichtigsten Parteien sind sich grundsätzlich einig darüber, dass die EU-Forschungszusammenarbeit verstärkt werden muss, die vor allem für Pharmaunternehmen von zentraler Bedeutung ist. Deutschland dürfte daher den Vorstoß der EU-Kommission zur Schaffung eines Europäischen Gesundheitsdatenraums (EHDS) unterstützen, um die fragmentierte Gesundheitsdatenlandschaft in der EU zusammenführen. Im Hinblick auf die Bewertung von Gesundheitstechnologien (HTA) wird eine neue deutsche Regierung wahrscheinlich weiterhin auf nationale Verfahren setzen.

Im Jahr 2020 forderte Bundeskanzlerin Angela Merkel ein gemeinsames EU-Konzept zur Bewältigung von Gesundheitskrisen und eine größere medizinische und pharmazeutische Autonomie. Dieser Aufruf zum Handeln mündete in der Pharmaceutical Strategy for Europe der EU-Kommission, die insbesondere das Erreichen strategischer Autonomie zu einem ihrer Kernziele macht. Das Streben nach mehr medizinischer und pharmazeutischer Autonomie dürfte daher ein gemeinsames Ziel der EU und Deutschlands bleiben - auch unter einer neuen Bundesregierung. Die Grünen, die CDU/CSU und die SPD sind sich außerdem einig, dass bis 2025 mindestens 3,5 Prozent der nationalen Wirtschaftsleistung in Forschung und Entwicklung investiert werden sollen. Dieser Schwerpunkt auf Forschung und Entwicklung dürfte sich gut mit dem Bestreben der Europäischen Kommission decken, die Innovation in der gesamten EU durch ihr 95,5 Milliarden Euro schweres Programm Horizon Europe zu fördern. 

Dennoch wird die Regulierung des Pharmasektors vermutlich zu kontroversen Debatten führen, insbesondere bezüglich Preisregulierung und Patenten. Eine linksgerichtete Koalition aus SPD, Grüne und Linke müsste sich mit den Forderungen der Linken nach einer Begrenzung der Arzneimittelpreise, einer „Demokratisierung“ der Pharmaindustrie und einer sozialverträglichen Patentverwertung (equitable licensing) auseinandersetzen. Mit den Liberalen in der Regierung würde dagegen der Erhalt von Patentrechten an Bedeutung gewinnen.  

Initiativen zur Digitalisierung des Gesundheitswesens dürften parteiübergreifend auf Konsens stoßen. Die neue Regierung wird daher wahrscheinlich darauf drängen, folgende Maßnahmen in eine europäische Digitalagenda aufzunehmen: die elektronische Patientenakte (ePA), Telemedizin und Gesundheitsanwendungen sowie gemeinsame Daten- und Interoperabilitätsstandards in der Telematikinfrastruktur.
 

Blick in die Zukunft: Eine entscheidende Rolle für Deutschland

Angesichts der Dringlichkeit der EU und diverser Mitgliedsstaaten, sich intensiver mit Arzneimittelpreisen und geistigem Eigentum auseinanderzusetzen, könnte die neue Regierungszusammensetzung in Deutschland weitreichende Auswirkungen auf den Gesundheitssektor haben. Die Akteure des Gesundheitswesens in Deutschland und der EU sind daher im Zugzwang, klare Positionen zu beziehen und gleichzeitig regulatorische und politische Risiken zu antizipieren. Ebenso wird es wichtig werden, das Vertrauen zu Stakeholdergruppen zu stärken.
 

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