Die Regierungszeit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel endet Ende September nach 16 Jahren. Dieser Beitrag analysiert, wie sich die deutsch-französische Machtdynamik nach der wichtigsten Bundestagswahl seit Jahrzehnten verändern und sich dies auf die EU auswirken könnte.

Deutschland und Frankreich sind die engsten Verbündeten in Europa und weiterhin die wichtigsten Akteure der europäischen Integration. Die strategischen Prioritäten der deutsch-französischen Beziehung werden nach den Bundestagswahlen voraussichtlich neu definiert. Alle drei Spitzenkandidaten für die Nachfolge Merkels, darunter Armin Laschet (CDU/CSU), Annalena Baerbock (Die Grünen) und Olaf Scholz (Sozialdemokraten), haben deutlich betont, noch enger mit Frankreich zusammenarbeiten zu wollen. Trotz dieser Willensbekundung bleiben einige grundlegende Fragen ungelöst. 

Zahlreiche Meinungsumfragen deuten auf ein offenes Rennen zwischen den drei Kandidaten hin, wenn auch Olaf Scholz (SPD) als Favorit gilt. Mögliche Koalitionsverhandlungen dürften langwierig werden, wie zuletzt nach den Bundestagswahlen im Herbst 2017, als sich die Verhandlungen über fünf Monate hinzogen. Damit bleibt das mögliche Szenario, dass das Regierungskabinett bis März 2022 noch nicht gebildet ist. Der Hinweis ist wichtig, da im April 2022 Präsidentschaftswahlen in Frankreich stattfinden und Paris gleichzeitig die EU-Ratspräsidentschaft innehaben wird. Dies könnte zu einem europäischen Machtvakuum führen, wenn deutsch-französische Initiativen nicht die nötige politische Rückendeckung erhalten. Die entscheidende Frage lautet daher: Was bedeutet dies für die großen Herausforderungen, vor denen die EU im geopolitischen Zeitalter der Systemwettbewerbe steht?  
 

Das deutsch-französische Verhältnis in einem Europa nach Merkel 

Angesichts des ungewissen Ausgangs der Wahlen in Deutschland und Frankreich stehen die Europäer vor der Frage, wie sich die Union in einer globalen Politik ohne Merkel künftig ausrichten wird. 

Mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU gehört die deutsch-französische Partnerschaft zu den wichtigsten Achsen in der EU. Sie steht in Konkurrenz zu den sog. „sparsamen Vier“ aus Österreich, Dänemark, den Niederlanden und Schweden und dem eher euroskeptischen Ostblock unter der Führung der Visegrád-Staaten aus Tschechien, Ungarn, Polen und der Slowakei. Trotz der engen Zusammenarbeit mit Deutschland zeichnet sich seither eine gewisse Diversifizierung der französischen Allianzpolitik ab z.B. durch die aktive Außenpolitik im östlichen Mittelmeerraum. Frankreich und Italien stehen durch die Unterzeichnung des Quirinal-Vertrags vor einer Intensivierung ihrer Partnerschaft und könnten die EU stärker nach französisch-italienischen Vorstellung ausrichten – insbesondere wenn das Machtvakuum in Deutschland größer werden sollte. Auch wenn Deutschland weiterhin auf Kontinuität und Stabilität in der EU setzt, bemüht sich Frankreich, die von Merkel hinterlassene politische Lücke in Europa zu füllen. Was also offen bleibt: Wie werden sich die Beziehungen zu Frankreich unter einer neuen Bundesregierung ändern? 

Für die Wirtschaft wird es bei der Wahl in Deutschland darum gehen, die für eine effektive EU notwendige politische Führung wiederherzustellen. Dies wird keine leichte Aufgabe, denn das Vertrauen der Menschen in Führungspersonen (z.B. Regierungsverantwortliche) ist auf einem historischen Tiefstand (2021 Edelman Trust Barometer). Berlin und Paris werden gemeinsam arbeiten müssen – mit Hilfe des 750 Milliarden Euro schweren NextGenerationEU-Konjunkturprogramms –, die Wettbewerbsfähigkeit der EU zu stärken. Berlin und Paris erwarten schwierige Gespräche, aber auch viele gemeinsame Nenner.
 

Die deutsch-französischen Beziehungen bleiben ein Spannungsfeld politischer Kulturen, doch beide werden die politische Nähe suchen müssen 

Deutschland wird wohl auch unter einem Bundeskanzler der CDU/CSU den Status quo in der Finanzpolitik bewahren wollen, während ein Bundeskanzler Scholz ein in der EU-Finanzpolitik noch nicht eindeutiges Bild abgibt. Scholz hat sich vor der Pandemie wiederholt für eine eher konservative Haushaltspolitik ausgesprochen. Es ist zu erwarten, dass er taktisch zunächst keine eindeutige Position beziehen wird, um alle Koalitionsoptionen offen zu halten. Dazu gehört auch ein Linksbündnis, dass Deutschland möglicherweise sogar eine Annäherung an französische Positionen bedeuten könnte. Dazu müsste aber noch viel passieren.

In der EU-Klimapolitik wird die Zukunft der Kernenergie ein Streitpunkt bleiben. Der französische Präsident Emmanuel Macron setzt auf die Kernenergie in Frankreich und wird sich daher bemühen, dass die Kernenergie im Rahmen der EU-Taxonomie für nachhaltige Finanzen als grüne Investition eingestuft wird. Dies stößt bisher auf den Widerstand der scheidenden deutschen Regierung. Gleichzeitig dürfte dieses Vorhaben bei den Grünen, die die Kernenergie vehement ablehnen, auf großes Unverständnis stoßen und in Forderungen nach einem kompletten EU-weiten „Nein“ zur Atomkraft münden.

Gleichzeitig dürften Deutschland und Frankreich enger in der internationalen Klimapolitik zusammenarbeiten. So schlägt Olaf Scholz einen internationalen „Klimaclub“ vor, für dessen Umsetzung eine SPD-geführte Bundesregierung insbesondere mit Frankreich abstimmen dürfte. Eine solche Staatenallianz soll die Klimapolitik international stärker institutionalisieren. Ebenfalls wird erwartet, dass Berlin und Paris auf eine EU-weite CO2-Grenzsteuer einigen werden, deren Durchsetzung mit einer FDP-Regierungsbeteiligung jedoch schwierig sein könnte.

Ganz gleich, welche Parteien die neue Regierung stellen werden: Differenzen zwischen Berlin und Paris bei der Frage, wie eine europäische Verteidigungspolitik gestaltet werden soll, werden weiterhin bestehen bleiben. Deutschland ist traditionell gegenüber der Idee einer europäischen „strategischen Autonomie“ nach der Auslegung von Emmanuel Macron, die EU militärisch unabhängiger zu machen, skeptisch eingestellt. Bisher haben weder die eher auf die NATO ausgerichteten Konservativen noch die Sozialdemokraten ein deutliches Einschwenken auf Macrons Position signalisiert. Die Grünen dürften jedoch mit einer Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf EU-Ebene eher liebäugeln als das nationale Wehretat zu steigern. Interessanterweise könnte eine „Ampelkoalition“ aus SPD, Grünen und Liberalen einer Stärkung der europäischen Verteidigungskapazitäten gegenüber aufgeschlossener sein, als es die Konservativen aus CDU/CSU sind. SPD und Grüne werden aber wiederum solche deutsch-französischen Rüstungsprojekte auf Eis legen, bei denen autonom-bewaffnete Drohnen im Spiel sind.


Nur eine enges deutsch-französische Verhältnis wird die globale Rolle Europas stärken

 Präsident Macron hat kürzlich unterstrichen, dass die deutsch-französische Partnerschaft nicht nur für die EU, sondern auch international von entscheidender Bedeutung ist. Gerade mit Blick auf die jüngste Afghanistan-Krise werden Frankreich und Deutschland gemeinsam mit der EU an einer gemeinsamen Haltung zur Migrationspolitik arbeiten müssen. Im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2022 wird Frankreich auf Unterstützung von einer bereits vereidigten Bundesregierung hoffen, die globale Wettbewerbsfähigkeit der EU zu stärken. Offen bleibt, ob sich Deutschland mit einer neuen Regierung zumindest teilweise vom „französischen“ Weg der Weltpolitik überzeugen lässt.

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